„Gorbatschow restaurierte Stalins System“

Im Gespräch mit dem Logiker, Schriftsteller und Maler Alexander Sinowjew über den Untergang der UdSSR, das Problem des Verrats und die Perspektiven Rußlands

Porträt Alexander Sinowjews auf seinem Grabstein auf dem Friedhogf des Moskauer Jungfrauenklosters Foto A. Savin/ wikimedia commons/ CC-by-sa 3.0

„Die Versuchung ist groß, im Zusammenhang mit Sinowjew Rabelais, Swift, Kafka zu nennen«, schrieb der Pariser „l´Express“, nachdem 1976 im Westen Alexander Sinowjews Buch „Gähnende Höhen“ erschienen war. Der Roman brachte seinem Autor den Ausschluß aus dem Philosophie-Institut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften und der Moskauer Universität ein. 1978 dann wurde er, der als einer der bedeutendsten philosophischen Logiker der Gegenwart gilt, aus der Sowjetunion ausgebürgert. Der 1922 Geborene ließ sich daraufhin in München nieder und arbeitete weiter, was das Zeug hielt. Nach Büchern wie „Lichte Zukunft“, „Homo Sovieticus“ und „Kommunismus als Realität“ erschien 1988 „Katastroika. Gorbatschows Potemkinsche Dörfer«, in dem er schlicht fragte: Für welche Schichten der Sowjetbevölkerung ist die „Perestroika“ von Vorteil und für welche ist sie es nicht? Welchen Nutzen bringt das Ganze dem Land? – Die ernüchternden Antworten und Sinowjews vernichtendes Urteil über Gorbatschows Politik wollte in der Medienöffentlichkeit der Bundesrepublik kaum noch jemand hören. Und an eine Veröffentlichung im Land der „Glasnost“ oder in der DDR war nicht einmal zu denken. Das folgende Interview mit Alexander Sinowjew, dem Logiker, Schriftsteller und Maler, wurde 1992 in München geführt. 1999 kehrte Sinowjew nach Moskau zurück. Dort ist er am 10. Mai 2006 gestorben.

Ende 1992 veranstaltete der Lehrstuhl Logik der Berliner Humboldt-Universität ein Ehrenkolloquium anläßlich Ihres 70. Geburtstages. Warum gerade dort?
Viele deutsche Studenten haben bei mir in Moskau studiert oder ihre Dissertationen geschrieben. Einer davon, Professor Horst Wessel, hat an der Ostberliner Universität den Lehrstuhl für Logik. Dort lehrte ich 1971 und 1974 mehrfach als Gastprofessor. Während in der damaligen Sowjetunion meine Werke, auch die wissenschaftlichen, boykottiert wurden, hat die Gruppe von Professor Wessel meine Arbeit voll anerkannt. Selbst nach meiner Ausbürgerung wurde ich von ostdeutschen Wissenschaftlern in wissenschaftlichen Arbeiten zitiert. Ich hoffe, daß meine Logik-Schule in Berlin fortgeführt wird. In Rußland besteht sie nicht mehr.

Sie sind 1978 aus der UdSSR ausgebürgert worden. Nachdem Gorbatschow Parteichef wurde, holte er Leute wie Sacharow aus der Verbannung. Sie jedoch wurden auch in der Ära der „Glasnost“ in ihrer Heimat nicht einmal gedruckt. Wie erklären Sie sich das?
Die Helden meines ersten literarischen Werkes „Gähnende Höhen“ waren genau die Leute, aus denen Gorbatschow und Jelzin ihre Mannschaft rekrutierten. Als ich das Buch schrieb, waren diese Leute noch nicht an der Macht. Mit Gorbatschow wurden sie zu Hauptfiguren der Politik. Und natürlich wollten diese Leute mich nicht anerkennen. Auch unter Gorbatschow waren meine Bücher noch jahrelang verboten. Und heute werden sie immer noch boykottiert. Als Gorbatschow die Bundesrepublik besuchte, verschwand übrigens auch hier über Nacht mein Buch „Katastroika“ aus den Läden, nachdem vorher in kürzester Zeit 8.000 Exemplare verkauft worden waren. Vor Gorbatschow kritisierte ich Breschnews Regime. Als Gorbatschow an die Macht am, begann ich die neue Macht zu kritisieren. Viel schärfer als das frühere System. Gorbatschow und Jelzin und alle diese Leute sind für mich Feinde, keine Freunde.

Warum?
Sie haben meine Heimat zerstört, mein Volk und mein Land verraten. Sie sind Verräter: Gorbatschow, Jakowlew, Schewardnadse, Jelzin usw.

In Ihrem Buch „Katastroika“ hatten Sie noch gefragt, ob Gorbatschows Politik eine Farce oder ernst gemeint war.
Als Gorbatschow im Jahre 1985 nach England kam, besuchte er nicht Marx’ Grab. Damals habe ich ein Interview gegeben und gesagt, eine große Epoche des Verrates beginnt. Für mich war klar, daß Gorbatschow bereit war, den Marxismus-Leninismus, das sowjetische System und das sowjetische Volk überhaupt zu verraten. Aber ich war damals noch überzeugt, daß es im Land genug Menschen gibt, die Gorbatschow daran hindern würden. Das war mein Fehler.

Aber im Westen ist Gorbatschow sehr anerkannt.
Ja natürlich, denn er ist ein Mann des Westens. Er arbeitete für den Westen, nicht für Rußland. Er ist ein Verräter, im genauen Sinne des Wortes.

Sie müssen uns einen Widerspruch erklären. In Ihren Büchern verspotten Sie den Marxismus. Auf der anderen Seite erklären Sie, der Kommunismus sei das beste System für Rußland.
Das ist kein Widerspruch. Ich bin kein Politiker, sondern Schriftsteller. Als Wissenschaftler und Schriftsteller habe ich die bessere Weltanschauung entwickelt. Meine Theorie – in Logik, Philosophie und Soziologie – ist besser als der Marxismus-Leninismus. Der Marxismus-Leninismus ist dennoch eine bedeutende Erscheinung in der Weltkultur. Die Bevölkerung und die Situation im Lande – das ist eine ganz andere Sache. Viele Schriftsteller haben ihre Länder kritisiert, so Balzac, Shakespeare, Swift, vor der Revolution in Rußland Saltykow-Schtschedrin und andere. Das ist die Aufgabe von Schriftstellern. Das bedeutet nicht, daß ich dieses System zerstören wollte.

Erklären Sie uns bitte, warum das kommunistische System für Rußland Ihrer Meinung nach das beste war.
Sehen Sie, das kommunistische System in Rußland war eine Fortsetzung des Systems, das vor der Revolution existierte und immer in Rußland existiert hat. Die russische Geschichte war immer staatsbürokratische Geschichte. Vor der Revolution existierten drei Mächte in Rußland: der veraltete und schon geschwächte Feudalismus, der neue, noch schwache Kapitalismus und die sehr starke Staatsbürokratie. Der Staat spielte in Rußland eigentlich immer die wichtigste Rolle. Nach der Revolution waren die Kapitalisten und der Adel verschwunden, der Staat aber wurde noch stärker. Das sozialistische System war eine natürliche Fortsetzung des früheren.

War also der Sozialismus sowjetischer Prägung eine Art Fortsetzung der asiatischen Despotie?
Nein. Ich vermeide solche Vergleiche. Was ist asiatische Despotie? Das sind unnütze Worte, wie auch „Totalitarismus“ eines ist. Diese Worte sind ideologische Worte und keine wissenschaftlichen. In meinem Buch „Kommunismus als Realität“ habe ich die Grundlagen der Theorie des Kommunismus dargelegt. Als Marx seinen sogenannten wissenschaftlichen Kommunismus erfunden hat, existierte die kommunistische Gesellschaft überhaupt noch nicht. Aber für mich war die kommunistische Gesellschaft die Realität. Ich habe die reale kommunistische Gesellschaft untersucht, keine imaginäre. Für Marx und Lenin waren andere Eigenschaften grundlegend als für mich. Einige Eigenschaften sind dieselben: kein Privateigentum, demokratischer Zentralismus, Staatsideologie. Für mich waren aber wichtiger: eine bestimmte soziale Organisation, soziale Gruppen, primäre Kollektive und die Strukturen dieser Kollektive, die Struktur der Macht.
So habe ich schon vor Jahren eine ganz andere Theorie der Partei entwickelt. Danach war die KPdSU eigentlich keine Partei. Sie bestand im Grund nur aus dem Parteiapparat. Dieser Apparat war zugleich der Kern des Staatsapparats. Daneben gab es die primären Parteiorganisationen. Jetzt benutzen alle in Rußland diese Theorie von der Partei.
Heute sagen viele Linke, der „reale Sozialismus“ war eigentlich gar kein Sozialismus. Solche Leute fragen: Entspricht die Realität einem Begriff oder nicht? Eine solche Sicht ist unwissenschaftlich. Die reale Gesellschaft entsteht doch aufgrund realer, objektiver Gesetzmäßigkeiten und nicht aus dem Kopf. Diese Gesellschaft, die fast alle Welt „kommunistisch“ nannten, war Realität, egal, ob sie nun den marxistischen Ideen entsprach. Soweit Marx den Kapitalismus analysiert hat, ging er ganz objektiv vor. Doch auf den Kommunismus wollte er seine Methode nicht anwenden. Und so gibt es eben völlig falsche Behauptungen: zum Beispiel, daß der Staat im Kommunismus absterben würde. Das ist unmöglich. Umgekehrt: Der Staat wird stärker und stärker.

Sie teilen also nicht die gerade in Rußland oft geäußerte Meinung, die Bolschewiki hätten die Revolution besser sein lassen sollen?
Solche Gedanken sind sinnlos. Ebensogut könnte ich spekulieren, was wäre passiert, wenn Hitler oder Napoleon Rußland nicht angegriffen hätten.

Ist das nicht ein Widerspruch? Wenn alle Veränderungen notwendig geschehen, wie können dann Gorbatschow oder Jelzin „Verräter“ sein? Wo bleibt da Spielraum für individuelle Verantwortung?
Ich behaupte ja nicht, Gorbatschow hätte entschieden, die UdSSR zu zerstören. Infolge des Kalten Krieges entstand eine Krisensituation. Dennoch hätte das Land alle Schwierigkeiten überstehen können. Doch Gorbatschows Regierung hatte keine Ahnung von der Natur der sowjetischen Gesellschaft oder der Situation in der Welt. Sie wollten die Entwicklung im Lande vorantreiben, um das Land auf westliches Niveau zu bringen. So entstand die Politik der „Perestroika“. Doch es war schon von Beginn an zu sehen, daß diese Politik erfolglos sein würde. Nach zwei Jahren war es auch ihnen selbst klar. Um ihre Machtposition zu bewahren, begann der Verrat der Gorbatschow-Regierung. Lesen Sie nach. 1985/1986 bekundeten sie immer, daß sie treue Marxisten seien, sie wollten einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ aufbauen. Aber diese Ansichten änderten sie. Sie hatten bald nur noch die Chance, entweder die Macht zu verlassen oder Verräter zu werden.

„Verrat“ – ist das nicht nur eine moralische Kategorie, mit der man in der Politik nicht viel weiterkommt?
Der Begriff des Verrats ist kein bloß moralischer oder politischer, er ist auch wissenschaftlich faßbar. Stellen Sie sich nur einmal vor, Clinton würde vor seinen Wählern in den USA erklären: Der Kapitalismus ist eine schlechte Gesellschaftsordnung, wir schaffen ihn jetzt ab. Die Republikanische Partei und die Demokraten sind ab sofort verboten, und wir führen den Kommunismus ein.
Na? Gorbatschow, Jakowlew, Jelzin, Schewardnadse – alle haben sie eine Parteikarriere hinter sich gehabt und waren immer Marxisten-Leninisten. Aber plötzlich meinen sie, das kommunistische System sei ein Verbrechen gegen die Menschheit, die KP soll verboten sein.

Sie haben wiederholt geschrieben, in der Sowjetunion konnte man nicht die Macht ergreifen, sondern wurde man an die Macht gelassen. Wie war das mit dem Wechsel von Gorbatschow zu Jelzin?
Gorbatschow ist von Andropow geholt worden. Und Ligatschow hat Jelzin von Swerdlowsk nach Moskau gebracht. Ligatschow war eines der Politbüromitglieder, die die „Perestroika“ machen wollten. Und diese Leute – Gromyko, Ligatschow und andere – haben Gorbatschow zum Generalsekretär erkoren. Gorbatschow hätte niemals von sich aus Anspruch darauf erheben können.
Beim Wechsel von Gorbatschow zu Jelzin war die Situation ganz anders. Gorbatschow hatte ganz allmählich begonnen, das System zu zerstören. So schuf er das Amt des Präsidenten. Meiner Meinung nach versuchte Gorbatschow auf diese Weise, das stalinistische System zu restaurieren, wenn auch ohne Stalins Namen.

Was heißt das: stalinistisches System?
Das stalinistische System sieht so aus: an der Spitze ein Führer mit persönlicher Macht, der außerhalb der Partei und über ihr steht und diese als sein Instrument benutzt. Außerdem hat er seine eigenen Instrumente wie das KGB und die sogenannte Nomenklatura. In Breschnews System ist der Führer Teil der Partei. In Breschnews Zeit herrschte der Parteiapparat.
Der zweite Unterschied: Der Stalinismus war voluntaristisch. Wenn Stalin und seine Gruppe etwas wollten, haben sie einen Befehl gegeben, und es wurde gemacht. Breschnews System dagegen war nicht voluntaristisch, es war opportunistisch und bürokratisch. Und Gorbatschow wollte ein System stalinistischer Art schaffen. Der von ihm eingeführte Posten des Präsidenten war wieder außerhalb der Partei, er hat den Parteiapparat als sein Instrument benutzt. Sein System war voluntaristisch. Er und seine Regierung wollten diese Reformen von oben der Bevölkerung aufzwingen.
Was passierte, als Jelzin an die Macht kam? Gorbatschows Politik war absolut erfolglos. Mit dem sogenannten Putsch vom August 1991 versuchte er, die Staatsordnung wiederherzustellen. In diesem Sinne war das kein Putsch. Gorbatschows Benehmen während dieser Sache war sehr typisch für ihn. Er wollte, daß die schmutzige Arbeit andere machen, um dann als Befreier zu kommen, mit der Aureole des Heiligen. Das aber war sein Fehler. Das Spiel hat Jelzin gemacht, denn zu dieser Zeit hatte Gorbatschow seine Bedeutung für die westlichen Regierungen schon verloren. Die haben auf Jelzin gesetzt.
Und der eigentliche Putsch bestand in Jelzins Verteidigung des „Weißen Hauses“. Auch diese Operation war im voraus geplant. Das erste Zeichen dafür war für mich, als Rostropowitsch, der berühmte Cellist, im „Weißen Haus“ auftauchte, der eine untrügliche Nase dafür hat, wenn sich der Wind dreht.

Sie hatten in mehreren Ihrer Bücher geschrieben, daß die innere Stabilität der UdSSR größer sei, als man im Westen gemeinhin glaube. Und Sie hatten darauf verwiesen, daß zwischen der ökonomischen Effektivität eines Systems und seiner sozialen Effektivität zu unterscheiden sei. Nach dem Untergang der Sowjetunion müssen Sie sich da wohl korrigieren?
Nein, meine Behauptungen sind absolut richtig. Fangen wir mal mit der Stabilität an. Das kommunistische System der UdSSR, das man ebensogut als das traditionelle russische System bezeichnen kann, ist nur sehr schwer zu destabilisieren. Doch wenn es destabilisiert wurde, so wie das unter Gorbatschow geschah, ist es sehr schwierig, wieder Stabilität herzustellen. Im Augenblick ist es höchst instabil, aber es existiert weiter, ob es sich antikommunistisch, demokratisch oder sonstwie nennt. Seine Stabilisierung wird aber nun zehn, wenn nicht zwanzig Jahre dauern.
Nun zur Effektivität. Vom sozialen Standpunkt aus gesehen – nicht vom ökonomischen – ist das kommunistische System viel effektiver als das westliche. Ich lebe hier im Westen schon 14 Jahre und beschäftige mich mit dem hiesigen System. Versuchen Sie, in den Gesetzen der westlichen Länder soziale Rechte finden. Es gibt keine, dafür aber Arbeitslosigkeit, Armut usw.
So etwas existierte in Rußland vor der „Perestroika“ nicht. Das Lebensniveau war materiell nicht so hoch, wie es für viele Leute im Westen ist, aber in anderer Hinsicht viel besser. Nehmen Sie nur die kostenlose medizinische Betreuung, die billigen Mieten, die ganz anders gearteten menschlichen Beziehungen.
Ich bin kein Apologet des kommunistischen Systems. Trotzdem bevorzuge ich für mich das Leben unter dem Kommunismus, der in der Lage ist, jedem Arbeit und die Erfüllung der grundlegenden Lebensbedürfnisse zu garantieren.

Ist das, was Sie als Vorteile des kommunistischen Systems beschreiben, aber nicht mit einer geringen ökonomischen Effektivität bezahlt worden, die das System dann letztlich ganz und gar in Frage stellte?
Die kommunistische Gesellschaft hatte zu wenig Zeit, um ihre Vorteile zu beweisen. In Rußland existierte dieses System nur 70 Jahre. Für die Geschichte ist das zu wenig. Und alle diese Jahre waren ungeheuer schwierig: Nach der Revolution der Bürgerkrieg, dann die Vorbereitung zum Zweiten Weltkrieg, dann der deutsche Überfall, dann der Kalte Krieg.
Und sehen Sie, was passiert jetzt in Deutschland? Die Bundesrepublik hat aus Ostdeutschland 17 Millionen Menschen dazubekommen. Deren Lebensniveau war hoch, höher als in 80 Prozent der Länder der Welt. Nur 17 Millionen Menschen – und was sehen wir jetzt: eine katastrophale Lage. Westdeutschland, das reichste Land in der Welt, ist unfähig, diese 17 Millionen zu integrieren. In der Sowjetunion nahm zur Zeit Chruschtschows und Breschnews die Bevölkerung um 106 Millionen zu. Und da waren die Bedürfnisse auch in der UdSSR schon viel höher als in meiner Jugend, als ich nicht mal von einer eigenen Wohnung zu träumen gewagt hätte.
Kein westliches Land wäre fähig, eine solche Situation zu überleben. Die Sowjetunion hat das damals überlebt, dank des kommunistischen Systems. Und: Behauptet wird, der Kommunismus habe den Wettbewerb mit dem westlichen System verloren. Das ist eine Lüge. Wahr ist: Er wurde vom Westen zerstört, der zehnmal stärker war, vor allem ökonomisch, als die vom Krieg zerstörte Sowjetunion. Der Sieg im Kalten Krieg war kein Sieg des Kapitalismus, sondern ein Sieg des Westens, ein Sieg übrigens auch seiner Propaganda über die schwache kommunistische Ideologie.

Sie meinen damit, nicht ein System sei besiegt worden, sondern ein Land?
Ja, nur dank des Kommunismus konnte dieses Land so lange existieren. Ohne ihn wäre die Sowjetunion schon 1941 besiegt worden. Die Stärke des Westens war aber nur ein Faktor, ein anderer besteht in folgendem: Der Fisch begann, wie man im Russischen sagt, am Kopf zu stinken. Die höheren Schichten in Partei und Staat wurden relativ reich, hatten viel Macht und Privilegien, die sie behalten wollten. Alles, was uns einfacheren Leuten verboten war, haben sie sich erlaubt. Die Kinder der Parteibeamten hatten alle Dissidentenbücher, konnten westliche Filme sehen, alles. In diesen Kreisen hat man sich am Westen orientiert und begann, das Land zu verraten. Das kann man mit der Krise des frühen Christentums vergleichen, als selbst die Päpste Atheisten waren.

Der Zerfall der Sowjetunion wurde bzw. wird begleitet vom Ausbruch eines zum Teil militanten Nationalismus, es gibt aggressiven Antisemitismus. Nicht wenige befürchten, eine neue Diktatur in Rußland könnte faschistisch sein.
Das ist Nonsens. Diese Sachen werden von der westlichen Propaganda aufgebauscht. In der Realität sind die Bedingungen dafür nicht vorhanden – so wie es hier in Deutschland auch nicht die Bedingungen für eine Neuauflage des Faschismus gibt, trotz der Neonazis, von denen man jeden Tag hört und liest. Schon weil Kohl und Genscher bzw. dessen Nachfolger das revanchistische Geschäft viel besser betreiben als diese dummen Leute.
Rußland hat nur zwei Möglichkeiten. Die erste heißt, das kommunistische System in dieser oder jener Form wiederherzustellen; das ist eine absolute Notwendigkeit, um zu überleben. Und die zweite Möglichkeit: Rußland wird bis auf den Grund zerstört, verteilt und in westliche Kolonien verwandelt. Das hieße, Rußlands Volk würde allmählich aus der geschichtlichen Arena verschwinden.
Die Hauptabsichten des Westens verbinden sich mit der zweiten Möglichkeit. Der Kampf gegen den Kommunismus war und ist nur ein Vorwand. Man müßte doch ein Idiot sein, um zu glauben, die westlichen Länder wollen ein konkurrenzfähiges Rußland.

Dagegen ließe sich aber mit dem Beispiel Japan argumentieren, das die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg auch möglichst klein halten wollten. Eingetreten ist das Gegenteil.
Das ist oberflächlich gesehen richtig. Doch die Ökonomie ist nicht der einzige Faktor für die Macht eines Landes. Wirtschaftlich könnten die Japaner heute die USA zerstören, wenn die heute nicht die stärkste Armee in der Welt hätten, die stärksten Geheimdienste, den stärksten Propagandaapparat usw. Die USA sind heute die einzige Supermacht und insofern ohne Konkurrenz.
Und als Russe sage ich Ihnen, daß mit Russen nicht möglich ist, wirtschaftlich das zu wiederholen, was in Deutschland oder Japan getan wurde. Schon 1985 schrieb ich: Ja, die Sowjetunion könnte einen großen Sprung machen – mit einer abstrakten Bevölkerung von einem bestimmten Niveau, aber nicht mit den real vorhandenen Menschen. Auf der anderen Seite aber bot, das muß man auch sehen, das kommunistische System der Sowjetunion vielen ihrer Völkerschaften die einzige Möglichkeit, den Sprung in die Zivilisation zu schaffen. Das haben sie mit der Auflösung der UdSSR verloren